karolingische Renaissance: Erbe der Kulturen

karolingische Renaissance: Erbe der Kulturen
karolingische Renaissance: Erbe der Kulturen
 
Das Hineinwachsen in imperiale Dimensionen hatte für die fränkische Gesellschaft nicht nur politische, sondern auch kulturelle Konsequenzen, denn Karls abendländische Stellung als hegemonialer und durch die Salbung in einem besonderen Verhältnis zu Gott stehender Herrscher übertrug dem König und schließlich dem Kaiser eine umfassende Verantwortung für die gesamte Christenheit, die der Karolinger auch willig annahm. Seine geistlichen Berater, allen voran der Angelsachse Alkuin, wurden nicht müde, diese Seite der herrscherlichen Aufgabe zu betonen; und Karl selbst erklärte 796 in einem berühmten Schreiben an Papst Leo III., er allein sei dafür zuständig, Glauben und Kirche gegen äußere und innere Feinde zu schützen, während der Papst ihn dabei ausschließlich durch sein Gebet zu unterstützen habe. Aus diesem Selbstverständnis, das dem römischen Bischof nur den Platz für die Gebetshilfe zuwies, erwuchs die Verpflichtung des Herrschers, »Irriges zu bessern, Unnützes zu beseitigen und Richtiges zu bekräftigen«, wie Karl 789 in seiner »Generalermahnung« (admonitio generalis) erklärte; nur wenn alles korrekt war, konnte den Feinden Gottes und den Widersachern der Wahrheit erfolgreich entgegengetreten und das Heil errungen werden. Diese Erkenntnis aber erzeugte einen ungeheuren Verbesserungs- und Erneuerungswillen, der schließlich alle kulturellen Bereiche erfasste und in jenen Leistungen gipfelte, die gewöhnlich mit dem nicht völlig zutreffenden Schlagwort von der »karolingischen Renaissance« charakterisiert wird.
 
 Das Streben nach der rechten Norm
 
Wenn eine ordentliche Verehrung Gottes als heilsnotwendig und als Voraussetzung für den Bestand von Reich und Dynastie betrachtet wurde, dann mussten die bekannten Unterschiede im Wortlaut der lateinischen Bibel, die Divergenzen in den kirchlichen Rechtsbüchern und die Abweichungen beim Vollzug der Liturgie tiefste Besorgnis erregen. Deshalb wurde die Forderung nach authentischen Texten und nach einer Bibelkorrektur laut. Die rechte Norm (norma rectitudinis), an der sich alles auszurichten hatte, musste gefunden, das Falsche und Unzulängliche ausgemerzt oder richtig gestellt werden: Corrigere (verbessern) war daher das Leitmotiv des Erneuerungsstrebens; correctio, nicht Renaissance war das Ziel.
 
In karolingischer Tradition diente dabei vor allem die römische Praxis als Orientierungsmaßstab. Von Papst Hadrian I. erbat sich Karl daher Exemplare des in Rom gebräuchlichen (gregorianischen) Sakramentars und der kirchlichen Gesetzessammlung (der Dionysio-Hadriana), um sie als Muster und Norm für die eigenen Bemühungen verwenden zu lassen; aber auch ein weiterer Fundamentaltext der Kirche, die Benediktregel, stand am Hofe in authentischer Form, nämlich als Kopie der in Montecassino aufbewahrten angeblichen Urschrift, zur Verfügung. Doch konnten alle Anstrengungen um die correctio nur dann erfolgreich sein, wenn es gelang, das Bildungsniveau allgemein anzuheben. Besonders den Bischofskirchen und Klöstern wurde daher die Pflege des Unterrichts, der studia litterarum, eingeschärft. Die angestrebte Korrektur des Gottesdienstes hatte also eine Schul- und Bildungsreform zur Folge und führte schließlich sogar zur Wiederbelebung der Wissenschaft, die wiederum der Herrschaft und der Verwaltung sowohl des Reiches als auch der königlichen Güter nutzbar gemacht wurden. Dahinter stand die Erkenntnis, dass qualifiziertes Handeln — gleich in welchem Bereich — des rechten Wissens bedürfe. Karl hat dies gleichsam als Maxime der karolingischen Erneuerungsbewegung formuliert, als er um 795 dem Abt Baugulf von Fulda erklärte: »Obwohl gutes Tun besser ist als gutes Wissen, geht das Wissen doch dem Tun voraus.«
 
»Gutes Wissen« erforderte zunächst die Reinigung der lateinischen Sprache von den Vulgarismen, die in den letzten Jahrhunderten in sie eingedrungen waren. Dabei wurde jedoch — anders als im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Humanismus — nicht die klassische Latinität (etwa eines Cicero) zum Vorbild gewählt, sondern das spätantike Latein der Kirchenväter. Auf deren Texte, auf christliche Quellen griff man zurück, weswegen die »karolingische Renaissance« auch keine Wiedergeburt der Antike, sondern allenfalls der Spätantike gewesen ist. Auf diese Weise wurde das Lateinische als kirchliche (und lange Zeit auch als weltliche) Amtssprache, vor allem aber als Gelehrtensprache endgültig von der Entwicklung der romanischen Volkssprachen gelöst und bis weit in die Neuzeit hinein zum internationalen Verständigungsmittel in Europa.
 
Neben die Reinigung der Sprache trat eine Vereinheitlichung und Vereinfachung der Schrift. An die Stelle der in nachantiker Zeit in den verschiedenen Kulturräumen entstandenen unterschiedlichen Regionalschriften trat seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert eine klare und gut lesbare Schrift, die sich im 9. Jahrhundert im gesamten Frankenreich und bis zum 12. Jahrhundert über ganz Europa ausbreitete: die karolingische Minuskel, die in ihrer ausgewogenen Proportionalität und Harmonie eine einfache Schönheit ausstrahlt und die Grundlage für die heutige lateinische Schrift bildete, da die Renaissancehumanisten wieder auf sie zurückgriffen und die schwerer lesbare gotische Schrift des späten Mittelalters mieden.
 
»Gutes Wissen« bedurfte zur Vermittlung aber nicht nur der reinen Sprache und der klaren Schrift, sondern vor allem auch des Buches. Die notwendige Aufbesserung der Buchbestände führte daher zu einer vermehrten Produktion von Handschriften. Einer der ersten codices, die durch das Bemühen um die Erstellung oder Vervielfältigung von Texten entstanden, war das Godescalc-Evangelistar, das Karl selbst zusammen mit seiner Gemahlin Hildegard um 781 in Auftrag gegeben hat. Andere — wie die Ada-Handschrift oder das Aachener Evangeliar — sollten folgen, und Bedeutsames wurde dabei insbesondere bei der Buchmalerei geleistet.
 
Das von einem unverkennbaren pädagogischen Eifer getragene Streben nach correctio des Gottesdienstes, der Sprache und der Schrift war Teil einer umfassenden Erneuerungsbewegung, die alle Bereiche des sozialen und politischen Lebens erfasste und dadurch auch zu einer — allerdings nur begrenzten — Vereinheitlichung des karolingischen Großreiches und zum Ausgleich, nicht jedoch zur Beseitigung von historisch und regional bedingten Unterschieden beitrug. Das erzieherische, wissenschaftliche und kulturelle Bemühen um Bildung gehörte mithin aufs Engste in den größeren Zusammenhang der Sorge für die kirchliche Reform, für die (unter Karl nun endlich verwirklichte) Wiedereinführung der Metropolitanverfassung, für die Reorganisation der Güterverwaltung, für die Aufzeichnung oder Revision der Volksrechte (leges), für die Ordnung des Reiches, für die Festlegung von Maß, Gewicht und Münzfuß. Wenn schließlich der Erfolg mancher der eingeleiteten Maßnahmen auch zweifelhaft bleibt, so schufen die bildungsbegeisterten Impulse der Jahrzehnte um 800 doch ein solides Fundament für die abendländische Geistesgeschichte, in welches das kulturelle Erbe vergangener Epochen ebenso wie die intellektuellen Leistungen unterschiedlicher Kulturkreise einflossen. Wie bunt und vielfältig die Einflüsse waren, die hierbei wirksam wurden, zeigt in besonderem Maße der Gelehrtenkreis, den Karl der Große an seinem Hofe zu versammeln wusste — denn nicht nur die Klöster hatten Karls Bildungsprogramm zu verwirklichen, sondern vor allem der karolingische Hof selbst.
 
 Der Hof Karls des Großen
 
Der Hof war die wichtigste Institution des Königs. Er war einerseits als Haushalt des Herrschers Ort des täglichen Lebens und andererseits Zentrum des Reiches, an dem sich die Großen versammelten, um zusammen mit dem König Probleme aller Art zu beraten oder Vergünstigungen zu erwirken. Er schwankte daher in seiner personellen Zusammensetzung sehr und weitete sich gelegentlich zum Hoftag oder zur Reichsversammlung. Geleitet wurde er, seit die Karolinger zum Königtum aufgestiegen waren, nicht mehr von einem Hausmeier; vielmehr lag die Organisation seiner Versorgung und die Verwaltung der Güter und Einkünfte in den Händen von Seneschall, Kämmerer, Marschall und Mundschenk. Neben den Inhabern dieser vier alten Hofämter, denen entsprechendes Personal unterstand, gab es schon seit merowingischer Zeit den Pfalzgrafen als Beisitzer im Königsgericht, der unter Karl dem Großen und seinen Nachfolgern immer häufiger den Vorsitz in Stellvertretung des Königs übernahm. Wie sehr Hof- und Reichsverwaltung miteinander verzahnt waren, zeigt der Einsatz der Höflinge bei militärischen und diplomatischen Missionen im Reich. Im Kern stellte die Verwaltung des Reiches daher nichts anderes dar als eine verlängerte Hofverwaltung.
 
Unter Pippin III. war der Hof um ein weiteres, äußerst wichtiges und zukunftsträchtiges Element bereichert worden, um die Hofkapelle, die unter der Leitung eines obersten Kaplans stand. Der geistliche Hofdienst hatte damit eine neue Form erhalten, durch die die am Hofe tätigen Geistlichen als eigener, dem König persönlich verpflichteter Personenverband organisiert wurden. Zu seinen Aufgaben zählten die geistliche Betreuung des Herrschers und des Hofstaates sowie die Hut der königlichen Reliquien, unter denen ursprünglich die Mantelreliquie des heiligen Martin von Tours hervorragende Bedeutung besaß. Von dieser cappa (Kapuzenmantel) leiten sich deshalb auch die Begriffe capella und capellanus (Kaplan) ab. Ein Teil dieser Kapläne wurde, da sie schriftkundig waren, als notarii oder cancellarii auch zur Urkundenausstellung herangezogen, weswegen das Kanzleigeschäft zu einem Ressort der Hofkapelle wurde. Von ihr aus nahm aber auch die karolingische Geschichtsschreibung einen neuen Anfang.
 
Das Bildungselement, das die Kapelle am Hofe darstellte, wurde von Karl dem Großen weiter verstärkt, indem er eine Hofbibliothek aufbauen und die Hofschule ausgestalten ließ und dafür bedeutende Gelehrte gewann. Im Kreise dieser Intellektuellen konnte Karl, zweifelsohne selbst die treibende Kraft der Bildungsreform, in geselliger Runde seinen Bildungshunger und Wissensdurst stillen. Diese »Akademie«, die sich in besonderem Maße als Tafelrunde verwirklichte, bildete eine internationale Gesellschaft, zu deren führenden Köpfen etwa der Angelsachse Alkuin, der Langobarde Paulus Diaconus oder — neben Iren und Westgoten — der einer jüngeren Gelehrtengeneration angehörende Franke Einhard zählten. Dieser stand als Nachfolger Alkuins an der Spitze der Hofschule, war als Baumeister tätig und wurde schließlich zum Biographen Karls des Großen. In seiner Person spiegelt sich zugleich der beständige Erneuerungsprozess der höfischen Gelehrtenrunde, die nun auch stärker von Franken repräsentiert wurde.
 
Das von Karl und seinen Helfern initiierte und mit Schwung getragene Bemühen um correctio, so unvollendet diese insgesamt auch bleiben musste, hat in der rezeptiven Erneuerung von wissenschaftlichen und künstlerischen Traditionen, zu denen neben der Buchmalerei auch die Baukunst zählte, ein kulturelles Erbe bewahrt und geschaffen, aus dem alle weitere abendländische Geschichte ihren Nutzen ziehen konnte. Dies verleiht dem Werk Karls eine eigene Größe und bewirkt für den Herrscher selbst einen besonderen Nachruhm, auch wenn die politische Leistung des ersten Frankenkaisers nicht von Dauer war.
 
Prof. Dr. Franz-Reiner Erkens
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Frankenreich im Zerfall: Reichsteilungen des 9. Jahrhunderts
 
Ottonen: Kaisertum zwischen Aachen und Rom
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Kaisertum Karls des Großen: Symbol der Einheit
 
 
Fleckenstein, Josef: Die Bildungsreform Karls des Großen. Freiburg im Breisgau 1953.
 Patzelt, Erna: Die karolingische Renaissance. Graz 21965.
 Prinz, Friedrich: Frühes Mönchtum im Frankenreich. Darmstadt 21988.

Universal-Lexikon. 2012.

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